Illusionen und Entzauberung – Zu Sofia Andruchowytsch, »Der Papierjunge« (Felix Austria)

Sophia Andruchowytsch Der Papierjunge Cover

Stanislau, heute Ivano-Frankivsk, ist eine Kleinstadt im galizischen Karpatenvorland. Bis 1918 gehörte sie zur k.u.k. Monarchie, und vor allem die Architektur in der Innenstadt erinnert noch heute stark an diese Zeit. Hier spielt der Roman, der im Original passenderweise »Felix Austria« heisst.

Felix Austria – das klingt wie eine Beschwörung des Damals: eine glückliche Zeit, als sich Galizien zur Mitte Europas zählte. Sofia Andruchowytsch entwirft ein so großes Bilderbuch dieser Epoche, dass der Leser hin und wieder die erzählte Geschichte aus dem Auge verliert. Kurz zusammengefasst: Zwei junge Frauen, Adelja und Stefa, leben seit ihrer Kindheit zusammen, und auch als Adelja heiratet, bleibt Stefa und verrichtet den Haushalt. Stefa träumt davon, irgendwann ihr eigenes Leben zu leben – nicht als Dienstmädchen, sondern frei und selbstbestimmt. Doch es gelingt ihr nicht, sich aus ihrem bisherigen Leben zu lösen. Dann kommt der Zirkus des Magiers Thorn in die Stadt, und einer der Artisten sucht Zuflucht bei Stefa und Adelja. Es ist der »Papierjunge«, ein stummes Kind mit der Fähigkeit, sich durch die engsten Spalten schlängeln zu können.

Wunderbar erzählt

Andruchowytsch erzählt aus der Sicht Stefas, und sie ist eine verdammt gute Erzählerin – stark im Weben psychologischer Gespinste. Wie wunderbar ist die Gestalt der Stefa angelegt: eifersüchtig, dienstbeflissen, sich selbst zugleich erniedrigend und überschätzend. Indem sie den Leser durch die Stadt und ihren Alltag führt, erscheinen auch alle Figuren durch ihre Augen. Und wie verzerrt diese subjektive Sicht ist, erfährt man erst am Ende. Man erleidet dieselben Täuschungen und Enttäuschungen wie Stefa – das ist großartig geschrieben. Am Ende kommt es zu einer Katastrophe, doch so beiläufig, wie menschliche Tragödien vor sich gehen. Durch ein falsches Wort wird eine Lawine in Gang gesetzt. Doch selbst im Unheil ist Normalität, und das Leben geht irgendwie weiter.

Vielleicht wäre es der Geschichte dienlich gewesen, sich auf diesen Konflikt zu konzentrieren und etwas weniger Lokalkolorit einzubringen. Zuweilen verliert sich die Autorin in den Schilderungen der Stanislauer Straßennamen und traditionellen Speisen, zuweilen wird der Ton geschwätzig wie bei Thomas Mann. In jedem Fall wäre es dem Buch an sich dienlich gewesen, ihm seinen Originaltitel zu erhalten, statt ihm ein solch wirklich ärgerlichen, nichtssagenden Namen zu geben.

Sofia Andruchowytsch: Der Papierjunge, übers. v. Maria Weissenböck, Residenz Verlag, 312 S., EUR 22,90.


Dieser Text ist erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 02/2017.

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