Harte Schale, weicher Kern

Thomas Glavinic

Das Jahr 2015 war lang: Es war das Jahr der Flüchtlinge, der Flugzeugabstürze, der Terroranschläge und politischen Krisen. Diese Ereignisse kennen wir alle, doch am Neujahrstag 2015 liegen sie noch in der Zukunft. An diesem Morgen wacht ein nicht namentlich genannter Schriftsteller verkatert in seiner Wiener Einraumwohnung auf. Natürlich liegt eine nackte Frau neben ihm, und natürlich kann er sein Koks nicht finden.

»Der Jonas-Komplex« von Thomas Glavinic

So beginnt Thomas Glavinics Roman »Der Jonas-Komplex«, und wäre Glavinic nicht so ein brillanter Erzähler, müsste man ihm diesen klischeehaften Einstieg verübeln. Sex, Drogenprobleme und Alkohol, Daseinsmüdigkeit und Überdruss sind auf den ersten Blick nichts, womit man knapp 750 Buchseiten füllen muss. Doch dazu später mehr, zuerst zur Geschichte. Sie teilt sich auf unter drei Personen: dem Schriftsteller, seinem dreizehnjährigen Alter Ego sowie seinem Romanhelden Jonas, der bereits in Glavinics Büchern auftauchte.

Mit diesen drei Figuren durchlebt der Leser ein ganzes Jahr: vom 1. Januar bis zum 31. Dezember. Der Schriftsteller trifft eine Mörderin, fliegt für ein Stipendium nach Amerika und versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Nebenbei schreibt er an seinem Roman weiter. Die Romanfigur Jonas wiederum ist die komplette Antithese zum Schriftsteller-Ich. Wo dieser fast zugrunde geht an seinen eigenen Dämonen, da scheint jener ohne jedes Feuer und innerlich arm – er lebt nur für die Liebe zu seiner Freundin Marie und bereitet sich auf eine Reise zum Südpol vor. Das dreizehnjährige Ich steckt in einer extremen Krise: er wohnt bei einer seltsamen Frau, die ihn mißhandelt. Er flüchtet sich in einsame Schachpartien und Selbstmordphantasien.

Mann mit Eigenschaften

Glavinic hat sich einen interessanten Ruf als Chauvinistenschwein und angeblichen FPÖ-Sympathisant erarbeitet, sei es durch die Beschimpfung von Schriftstellerkolleginnen, sei es durch Statements, in denen er die pauschale Herabwürdigung von Hofer-Wählern kritisierte. Auf Facebook, wurde er – zumindest früher – immer wieder wegen anstößiger Inhalte »gemeldet«. Aber ist es nicht gut, wenn ein Autor polarisiert? Für den Verleger allemal – Glavinic zählt zu den bestverdienendsten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Es stellt sich die Frage: Ist die Nabelschau im »Jonas-Komplex« wirklich so interessant? Kurze Antwort: Ja – doch sie ist zu lang! Auch wenn die Betrachtungen ein ganzes Jahr umfassen sollen, hätten insbesondere die Jonas-Kapitel viel inhaltliche Straffung vertragen, denn im Gegensatz zu den Schilderungen aus dem Schriftstelleralltag und denen des Teenagers sind sie einfach öde.

Von Strickjäckchenschriftstellern und Betroffenheitsprofis

Umwerfend sind jedoch Glavinics Beobachtungen und Reflexionen, wenn man an seiner Hand das Jahr 2015 noch einmal miterlebt: etwa den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo, die ersten Bilder von Flüchtlingen und den Tod berühmter Leute. Zu Günter Grass konstatiert er: »Ein berühmter Schriftsteller ist gestorben. Auf Facebook stapeln sich die RIP-Meldungen. Als hätte irgendeiner von denen in den letzten zehn Jahren ein Buch von ihm gelesen. Was ich gut verstehen kann, denn ich mag diese Strickjäckchenschriftsteller auch nicht, geschweige denn, was sie schreiben. Aber warum tun alle so, als ob ihr eigener Großvater gestorben wäre? Die Hälfte meiner Facebook-Kontakte sind absolute Idioten. Lauter Betroffenheitsprofis […]«
Doch Glavinic ätzt nicht nur. Je nach Situation ist er auch witzig oder liebevoll. Meist jedoch klingt er hilflos, insbesondere wenn es um Frauen geht. Harte Schale, weicher Kern.

Jonas Komplex Thomas Glavinic

 

 
Thomas Glavinic: »Der Jonas-Komplex«, S. Fischer Verlag, 748 S., 24,99 EUR.

 

 

 


Dieser Text ist erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 01/2017.

Foto: (c) Stephan Röhl

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