»24 Wochen« – Worin liegt das kleinere Opfer?

24 Wochen

»24 Wochen« ist ein radikales Drama um die Spätabtreibung eines behinderten Kindes

In den USA müsste dieser Film vermutlich mit einer Triggerwarnung versehen werden, dabei klingt der Inhalt auf den ersten Blick harmlos: Astrid (Julia Jentsch) und Markus (Bjarne Mädel) sind im Beruf erfolgreich – sie als beliebte Kabarettistin, er als ihr Manager – und freuen sich mit ihrer neunjährigen Tochter auf das lang erwartete Brüderchen. Bei einer Routineuntersuchung erfahren sie, dass ihr zweites Kind Kennzeichen für Trisomie 21 trägt. Sie entscheiden sich gegen einen Abbruch und beginnen, sich auf ein Leben mit einem behinderten Kind vorzubereiten. Doch ihr Entschluss gerät ins Wanken, als eine weitere Untersuchung ergibt, dass das Kind zusätzlich einen schweren Herzfehler hat.

Die Regisseurin Anne Zohra Berrached hat mit »24 Wochen« einen ungemein authentischen Film geschaffen, der Fiktion und Wirklichkeit zusammenführt. Die Figuren und ihre Geschichte ist erdacht, doch die Szenarien, die sie durchlaufen, sind in allen Stadien wirklichkeitsgetreu: Untersuchungen, Beratungsgespräche, Krankenhausaufenthalte, Schwangerschaftsabbruch. Die Ärzte, Hebammen und Familienberaterinnen, die im Film auftauchen, arbeiten tatsächlich in diesen Berufen. Dadurch ist der Film beklemmend nah an der Realität.

Berracheds Anliegen ist es primär, den moralischen Konflikt in dieser Extremsituation auszuleuchten: das Recht der Frau auf Selbstbestimmung gegen das Recht des ungeborenen Kindes auf sein Leben. Doch der Film erzählt nicht einfach von den Gewissenskonflikten, denen die Eltern ausgesetzt sind. Vielmehr macht er die Krise sichtbar, in die das Paar durch die unerwartete Diagnose hineingeschleudert wird. Markus, der daran glauben will, dass alles irgendwie gehen wird. Astrid, die spürt, dass sie diese Last nicht tragen kann. Markus, der Astrid vorwirft, sie schotte sich ab und habe nur Angst um ihre Karriere. Astrid, die dazu schweigt.

Schweigen – Das große Dilemma

In diesem Schweigen liegen alle offenen Fragen: Ob es notwendig ist, alles zu tun, was technisch möglich ist. Ob eine Frau den Beruf, den sie liebt, aufgeben sollte für ein pflegebedürftiges Kind. Worin das »kleinere« Opfer liegt. Julia Jentsch zeigt sich in dieser Rolle sehr fragil und macht so die Einsamkeit plastisch: Alle Ratschläge der anderen üben Druck aus und führen so zu Reaktanz, Mißverständnissen und Streit. Es gibt nichts und niemanden, der ihr diese Last abnehmen kann. Die einzig mögliche Antwort wird ihr die Hebamme Yvonne geben: dass die Entscheidung nur dann getroffen werden kann, wenn sie getroffen werden muss.

In dem Schweigen liegt jedoch auch das große Dilemma des Films. Wäre es nicht möglich gewesen, die Gedanken aus dem Kopf von Astrid herauszuholen? Die Erstarrung, an der Menschen und Beziehungen zerbrechen können, filmisch zu lösen, indem den Zweifeln und Ängsten eine Gestalt verliehen wird? Hier bleibt der Film konsequent draußen und hinterlässt damit das zwiespältige Gefühl, dem Thema letztlich doch ausgewichen zu sein.


[erschienen unter anderem Titel im DRESDNER Kulturmagazin 09/2016 – Print]

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