Der Mensch als Naturkraft

Die Anthologie »Das Anthropozän« bietet einen Querschnitt durch den wissenschaftlichen Diskurs.

Wie es der Begriff »Anthropozän« in die Feuilletons geschafft hat, lässt sich nicht mehr exakt nachvollziehen. Paul Crutzen, Nobelpreisträger für Chemie, stellte 2002 in einem Aufsatz in der »Nature« dar, dass der Mensch seit der industriellen Revolution seine natürliche Umwelt so entscheidend verändere, dass man von einer neuen Epoche sprechen müsse.
Offensichtlich traf er damit angesichts von Klimawandel, politischen Konflikten und Turbokapitalismus einen entscheidenden Nerv. Die althergebrachte Vorstellung von Natur als nicht vom Menschen geschaffenem, objektiv vorgegebenem Gegensatz zur Kultur konnte als obsolet angesehen werden. Der Mensch formt die Natur. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist. Was ist zu tun? Wer sind die Akteure in dem Szenario? Welche Rolle spielen soziale Ungleichheiten und Hierarchien, Kapital und Technologie?

Am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin wurde »das Anthropozän« in einem zweijährigen interdisziplinären Projekt in den Blick genommen. Der vorliegende Band bietet einen konzentrierten Einblick in die Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven. Er versammelt insgesamt fünfzehn Aufsätze aus so unterschiedlichen Bereichen wie Geologie, Ökonomie, Rechtswissenschaften, Philosophie, Geschichte, Politik- oder Literaturwissenschaften, von denen hier einige hervorgehoben werden sollen:

Geologie

Auf die Frage, wann das Anthropozän begonnen hat, diskutiert Jan Zalasiewicz die möglichen Thesen für eine geologisch korrekten Datierung: Entweder mit den ersten menschlichen Eingriffen in die Landschaften und Ökosysteme der Welt, oder mit der industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert. Der dritte mögliche Zeitpunkt ist die sogenannte »great acceleration« nach dem 2. Weltkrieg: mit einem starken Wachstum sowohl der menschlichen Bevölkerung als auch der Weltwirtschaft. Beides stand in Verbindung mit einer fortschreitenden Energienutzung und der zunehmenden Industrialisierung, was wiederum eine Beschleunigung der Umweltveränderungen, einen enormen Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre und die umfangreiche Intensivierung der Landwirtschaft zur Folge hatte.

Recht

Im Mittelpunkt der Betrachtungen von Anne Peters stehen Tierrechte und die Infragestellung der Sonderposition des Menschen. Der destruktiven Kraft der menschlichen Spezies – die Zerstörung der Lebensräume von Tieren, die Ausrottung und Ausbeutung – wäre durch einen »animal turn« in den Sozialwissenschaften gegenzusteuern. Sie zieht hier Parallelen zu den sogenannten Völkerschauen des 19. und noch 20. Jahrhunderts, als noch Grenzen zwischen »Zivilisierten« und »Wilden« verliefen. Die unterprivilegierten Menschen bekamen ihre Freiheit und Rechte nicht großherzig als Geschenke dargebracht, sondern mußten sie – aufbauend die gedankliche Vorarbeiten von Philosophen, Staatstheoretikern und Juristen – gegen die herrschende Kultur erkämpfen.

Ökonomie

Jan Willmroth erörtert in seinem Aufsatz »Der Mensch als Ausbeuter und Gestalter«, was die Wirtschaftswissenschaften zu dieser Diskussion beizutragen haben. Kann der Mensch wirklich Gestalter sein, oder ist er nur Ausbeuter, der die Knappheit im ökonomischen Sinne effizient verwaltet und Gewinne maximiert? Am Beispiel der Diskussion um fossile Energieträger dreht er die Argumentation um: Es gibt nicht zu wenig Öl, Kohle oder Gas, sondern sogar zuviel Material, welches sich wirtschaftlich fördern lässt. Wenn die Natur nur als Lieferant von Rohstoffen, Anbieter von Dienstleistungen und Auffangbecken für den Abfall begriffen wird, wenn Berge, Wälder und Flüsse zu »grüner Infrastruktur« werden, dann wird der nicht ökonomisierte Rest-Raum immer kleiner. Hier fordert er einen Paradigmenwechsel: Ökonomie muss sich als abhängiges Subsystem der Ökosphäre begreifen.

Insgesamt bietet der Band einen guten Überblick über die Vielseitigkeit der Diskussion. Dass diese damit nicht abgeschlossen ist – und dass am Ende kein Masterplan für unsere Zukunft geboten wird, wurde dem Projekt gelegentlich angekreidet. Dazu zwei Anmerkungen. Erstens: Der Untertitel heißt »Zum Stand der Dinge«. Darin ist seine Vorläufigkeit schon inbegriffen. Zweitens: Es sind gut lesbare Fachtexte von Wissenschaftlern. Politische Manifeste kommen in der Regel aus anderen Kreisen.

Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, hg.v. Jürgen Renn und Bernd Scherer, mit Texten von P. Sloterdijk, J. Zalasiewicz, A. Peters u.a., 260 Seiten, Matthes & Seitz Berlin, 2015, 24,90 €.

erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 9/2016

Kommentar verfassen