„Wir müssen verbal abrüsten“

Prof. Dr. Hans Vorländer im Gespräch zu Pegida

Eine neue Gretchenfrage ist aufgetaucht: „Wie hast du’s mit Pegida?“ Und die Frage spaltet die Stadt. Freundschaften zerbrechen, die Kommunikation ist vergiftet. Schon ein kleiner Missgriff in der Ausdrucksweise kann für große Irritationen sorgen – und für Überlegungen wie „Mit wem habe ich es zu tun? Auf welcher Seite stehst Du?“

Prof. Hans Vorländer von der TU Dresden veröffentlichte bereits im Januar 2015 eine erste Studie zu Pegida. Am 22. Januar wird eine systematische Analyse der Bewegung erscheinen, die alle vorliegenden empirischen Studien zusammenfasst und um weitere Gesichtspunkte und Beobachtungen ergänzt. Heinz K. und Annett Groh waren im Gespräch mit Prof. Vorländer.

Was macht Pegida im Kern aus?

Hans Vorländer: Im Augenblick ist Pegida ganz eindeutig eine rechtspopulistische bis rechtsradikale Bewegung, die sich gegen ungesteuerte Zuwanderung richtet. Gleichzeitig mischt sich jedoch eine Ebene der Wut und Empörung über die politische Klasse mit hinein. Das eine geht mit dem anderen Hand in Hand.

Sie haben bereits im Januar eine erste Studie zu der Bewegung veröffentlicht. Welche Entwicklungen haben Sie seither beobachtet?

Hans Vorländer: Was wir bei unserer Befragung gesehen haben, ist, dass die Struktur der Teilnehmerschaft sehr unterschiedlich ist. Im Januar ließ die Zusammensetzung den Schluss zu, dass viele aus bürgerlichen Kreisen kommen und vergleichsweise gut verdienen.
Als die Vereinsführung auseinanderbrach, schrumpfte die Bewegung auf eine Gruppe von 1.000 bis maximal 3.000 Teilnehmern. Zu dieser Zeit haben wir keine empirischen Befragungen gemacht. In anderen Studien zeigte sich in der Selbsteinstufung der Teilnehmer ein deutlicher Rechtsruck. Über die jetzige Zusammensetzung liegen keine Befragungsergebnisse vor. Ich habe jedoch den Eindruck, dass sich die Zusammensetzung der Teilnehmer im wesentlichen der vom Januar angleicht. Es gibt natürlich Gruppen, die aus dem Hooliganmilieu und aus neonazistischen Kreisen kommen. Die waren die ganze Zeit über mit dabei. Aber man hat in den letzten Wochen gesehen, dass eben auch wieder andere Leute das Bild bestimmen. Ganze Familien sind dabei: Großeltern, Eltern und Kinder.

Thematisch gesehen scheint nun aber allein das Flüchtlingproblem im Zentrum zu stehen.

Hans Vorländer: Ja, Pegida ist zu einer Anti-Asylbewerber-Bewegung geworden. Anfang Januar war Pegida in den Forderungen viel diffuser und es überwog eine große Unzufriedenheit mit Politik und Medien im allgemeinen. Jetzt ist die Rhetorik ungleich härter und roher. Auf dem Podium überwiegen Hass- und Hetzreden ganz eindeutig.

Inwieweit kann man die rhetorischen Zuspitzungen seitens der Politiker in Bezug auf Pegida-Teilnehmer (»Rattenfänger«, »Pack«) für diese Radikalisierung verantwortlich machen?

Hans Vorländer: Es ist kontraproduktiv, auf Pegida bzw. deren bürgerlichen Teile zu schimpfen, denn die Leute fühlen sich so erst recht bemüßigt, zu Pegida zu gehen. Sie fühlen sich nicht verstanden und bekommen den Eindruck, in ihren Ängsten und Befürchtungen nicht ernstgenommen zu werden.
Das Problem ist, dass alle Teilnehmer immer mit der Rhetorik der Redner identifiziert werden. Die Redner werden wahrgenommen, alles andere sind nur Ausschnitte. Die Medien haben diese Brisanz nicht erkannt: dass viele Bürger darunter sind, die sich durch die falsche bzw. selektive Berichterstattung verletzt fühlen. Denn wenn man sich bei Pegida umschaut, sieht man, dass die Leute den Rednern gar nicht zuhören. Es interessiert sie überhaupt nicht, was dort gesprochen wird. Sie selbst nehmen sich anders wahr als der Redner nach außen hin wirkt und von dritten wiederum wahrgenommen wird. Und deshalb reagieren sie so allergisch darauf, wenn sie als Faschisten oder Neonazis bezeichnet werden – weil sie das selbst ganz anders sehen. Ihr Eigenbild stimmt nicht mit dem Fremdbild überein.

Wie kommt man aus der Spirale wieder heraus?

Hans Vorländer: Darauf können die Pegida-Teilnehmer im Grunde nur so reagieren, dass sie sich deutlich von der Hassrhetorik distanzieren. Dann können sie stärker – und vielleicht zurecht – sagen: »Wir möchten gehört werden! Wir möchten, dass Ihr unsere Forderungen ernst nehmt!« Aber die Bürger müssen sich auch fragen lassen, ob es ausreicht, hinter Bachmann und anderen herzulaufen, wie sie es seit über einem Jahr tun. Die Demokratie bietet viele Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Man kann sich organisieren, man kann einen Verein, eine Bürgerinitiative oder eine Partei gründen und dort seine Position durchsetzen. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt: Selbst konstruktiv tätig zu werden. Es ist eine sehr einfache Attitüde, auf die Straße zu gehen und zu sagen, dass einem alles nicht gefällt. Das ist im Grunde eine unpolitische und nichtdemokratische Einstellung.

In der FAZ haben Sie Pegida als die »dunkle Seite der Zivilgesellschaft« bezeichnet. Sollte eine Demokratie das nicht aushalten?

Hans Vorländer: Ja, natürlich. Eine Demokratie muss und wird das aushalten. Ich glaube, dass unsere Demokratie robust genug dafür ist.

Aber die klaren Fronten und die Radikalisierung im Alltagsleben – spricht das nicht dagegen?

Hans Vorländer: Die Stadt ist derzeit sehr gespalten. Man muss jetzt verstärkt darauf hinwirken, dass die Bürger, deren Sorgen und Ängste sehr ernst zu nehmen sind, sich deutlich distanzieren von denjenigen, die an der Grenze zwischen Rhetorik und Gewalt operieren. Dresden muss darauf hinarbeiten, dass deutliche Grenzlinien gezogen werden und dass man die unentschiedenen oder zögernden Bürger in der Mitte aktiviert. Das ist wichtig, um diesen »Stellungskrieg« zu beenden und die Teile der Stadt wieder aus den Gräben herauszuholen.

Welche Rolle spielt für Pegida Ihrer Meinung nach die Erfahrung von 1989?

Hans Vorländer: Da sollte man schon den Unterschied sehen: 89 wurde ein autoritäres, diktatorisches Regime gestürzt. Jetzt haben wir eine Demokratie, die jedem Partizipationsmöglichkeiten einräumt und die Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert, wovon auch alle Pegida-Anhänger ja auch eifrig Gebrauch machen. Was sich hier aus der Zeit von vor 89/90 fortschleppt, das ist eine Art obrigkeitsstaatliches Denken, das darauf setzt, die Politik würde alles erledigen, wenn der Bürger nur laut genug schreit. In einer Demokratie muss der Bürger seine Sachen jedoch selbst in die Hand nehmen. Er muss versuchen, die Politik konstruktiv zu beeinflussen. Die Einstellung, man sei »Objekt von Politik« und könne dem nur etwas entgegensetzen, indem man auf die Straße geht, war 89/90 sicherlich richtig. Jetzt ist das kein adäquates Mittel, um Politik zu bewegen.

Von Pegida-Teilnehmern und aus deren Umfeld hört man allerdings, der Vergleich sei gerechtfertigt: Man könne und wolle noch einmal das Feeling von 89 haben. Es herrscht der Glaube, durch Druck auf der Straße Einfluss auf die Politik ausüben zu können.

Hans Vorländer: Ich glaube, das ist eine falsche Erwartungshaltung. Natürlich haben Demonstrationen immer einen Einfluss auf die Politik. Aber es geht ja hier nicht darum, ein System zu beseitigen, sondern die Politik zu verändern. Es wird verkannt, dass Politik sehr komplex ist und dass es nicht die eine Stellschraube gibt, an der man dreht und schon verändert sich alles.

Lässt sich die heutige Situation vielleicht auch mit den 20er Jahren vergleichen? Die etablierten Parteien verlieren ihre Klientel, die Menschen können ihren politischen Willen nirgends einordnen …

Hans Vorländer: Politisch, sozial und wirtschaftlich war die Situation völlig anders. Die Demokratie in den 20er Jahren war jung, nach einem verlorenen Krieg mühsam aus der Taufe gehoben und vollkommen instabil. Das Scheitern der Weimarer Republik hat uns aber gelehrt, dass wir politische Auseinandersetzungen auf der Straße nicht zulassen dürfen. Dadurch wird die demokratische Konfliktkultur im Kern beschädigt. Wir müssen einen Weg zurück finden, wie man Meinungsauseinandersetzungen und Konflikte zivilisiert betreibt. Wir brauchen eine neue, robuste Konfliktkultur, getragen von Toleranz und Respekt für andere Meinungen.

Als »Lügenpresse« abgestempelt ist es schwer, die Menschen zu erreichen: Welche Strategien kann man da entwickeln?

Hans Vorländer: Es gibt keine andere Möglichkeit als aufzuklären. Was die Sache generell schwierig macht, ist die gespaltene Öffentlichkeit. Es gibt die politisch-mediale Öffentlichkeit, zu denen die etablierten Medien zählen, die mit der Politik mehr oder weniger eng verbunden sind. Daneben gibt es eine andere, davon völlig abgekoppelte Öffentlichkeit, die sich in den sozialen Netzwerken etabliert. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Diese Partialisierung ist eines der größten Probleme der gegenwärtigen demokratischen Entwicklung – nicht nur in Dresden, sondern überall in Deutschland, in Europa, in den USA. In vielen Ländern kommt es dazu, dass sich Bürger gegen die Politik zur Wehr setzen. Sie können sie nicht verstehen und sie wollen sie nicht verstehen. Die einzige Form, wo beide Ebenen ein wenig verklammert werden, sind manchmal Talkshows im Fernsehen. Jedoch auch nicht wirklich alle – ansonsten sind sie total separiert.
Pegida ist so eine partiale Öffentlichkeit, die sich in der ersten Phase über die sozialen Medien konstituiert und sich dann aber durch Treffen auf Dresdens Plätzen zu einer Gemeinschaft gefunden hat. Die Versammlung auf der Straße ist das Komplementär für den virtuellen Raum. Hier schafft sich eine Gemeinschaft, indem sie sich auf der Straße immer wieder bewegt und trifft. Insofern hat das fast einen Ritualcharakter, dass man montags dorthin geht: man trifft seinesgleichen und redet miteinander.

Das Gemeinschaftsgefühl als entscheidender Auslöser?

Hans Vorländer: Genau. Das Schaffen von Gemeinschaft als Substitut für andere, verlorengegangene Gemeinschaftsformen, die vielleicht bis 89/90 vorhanden gewesen sind, die aber nicht durch andere Formen ersetzt werden konnten.

Die Dresdner Proteste gegen Pegida sind immer nur in einzelnen Punkten erfolgreich gewesen, jedoch nie in der Gesamtheit. Eigentlich ist es doch die Mehrheit in Dresden, die Pegida ablehnt. Warum gelingt es nicht, so viele Leute zu mobilisieren?

Hans Vorländer: Vielleicht muss man andersherum fragen: Warum ist Pegida hier so groß und anderswo eher klein? Offenbar gibt es eine nicht mobilisierbare größere Gruppierung innerhalb der Dresdner Bürgerschaft, die entweder saturiert ist, oder die einige der Punkte von Pegida teilt, oder die unpolitisch ist. Das sind mögliche Antworten. Es gibt auch Bürger, die sich ungern an solchen Protestformen beteiligen. Meine Gespräche haben mir gezeigt, dass viele sich nicht exponieren wollen, weil sie momentan tatsächlich Zweifel an der Kontrollierbarkeit, Beherrschbarkeit und Steuerbarkeit der politischen Situation haben. Auch wenn sie mit den radikalen Rhetoriken und mit den Hass- und Hetzreden nicht übereinstimmen, wollen sie nicht gegen Pegida demonstrieren, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, sie seien Anhänger einer ungesteuerten Zuwanderungspolitik.

Hätten Sie konkrete Vorschläge für Politiker für den Umgang mit den Menschen?

Hans Vorländer: Ich bin dagegen, immer allein die Politiker in die Pflicht zu nehmen. Die Politiker müssen im Augenblick sehen, dass sie die Situation administrativ bewältigen. Dass es Formen der Registrierung für Flüchtlinge gibt, dass es Gelder gibt, dass Integrationsmaßnahmen laufen, dass Flüchtlinge untergebracht werden, dass solche, die unberechtigterweise hier sind, auch wieder in ihre Länder zurückgebracht werden. Das ist ein breites Handlungsfeld, in dem die Politik sich bewähren muss.
Daneben muss Politik – aber das müssen wir Bürger auch – die Sorgen und Ängste unserer Mitbürger ernstnehmen und mit ihnen selbst sprechen. Die Zivilgesellschaft ist gefordert. Sie muss vermeiden, dass man immer in Schützengräben argumentiert, die einen seien die Guten und die anderen die Schlechten. Wer Zweifel an der gegenwärtigen ungesteuerten Zuwanderung hat, darf nicht sofort als Rassist bezeichnet werden; und diejenigen, welche den Flüchtlingen helfen, sollten nicht als Naivlinge und Gutmenschen denunziert werden. Wir müssen von diesen schrecklich plakativen und vereinfachenden Diskussionsweisen wegkommen. Ich glaube, das ist die Voraussetzung: Wir müssen verbal abrüsten und uns der praktischen Bewältigung von Aufgaben zuwenden. Das gilt für die Politik, und das gilt für uns alle als Bürger.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person:
Prof. Dr. Hans Vorländer, geb. 1954 in Wuppertal, Studium der Politischen Wissenschaft und der Rechtswissenschaften in Bonn und Genf, Promotion 1980 zum Thema „Verfassung und Konsens. Der Streit um die Verfassung in der Grundlagen- und Grundgesetz-Diskussion der Bundesrepublik Deutschland“; seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden.

Das Buch:
PEGIDA: Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, hg. v. H. Vorländer, M. Herold, S. Schäller, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2016, 165 Seiten.


[erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 12/2015]

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