„Mehr als nur ein ästhetisches Programm“

Matthes Seitz Berlin Naturkunden

Lange Zeit galt der Mensch als Maß aller Dinge und die Natur als ein ihm entgegengesetztes Phänomen, welches beherrscht und genutzt werden sollte. Von dem Gedanken, über die Natur herrschen zu können, haben wir uns verabschiedet. Doch unsere Existenz ist untrennbar mit ihr verknüpft, selbst wenn wir in Städten wohnen und unsere Lebensmittel im Supermarkt kaufen. Der Mensch hat auf den Planeten eine so immense Auswirkung, dass manche Forscher bereits davon sprechen, dass wir in der Epoche des Anthropozän leben.

Der Verlag Matthes & Seitz Berlin gibt seit 2013 die Buchreihe „Naturkunden“ heraus. Diese Bände – edel mit Farbschnitt, Lesebändchen und Fadenheftung – rücken den Menschen aus dem Zentrum der Betrachtung und widmen sich der uns umgebenden Flora und Fauna: Tierportraits, Naturbeschreibungen, Bildbände. Der Verleger Andreas Rötzer erzählt im Gespräch mit Dresdner-Autorin Annett Groh von den Hintergründen zu diesen außergewöhnlichen Büchern.

Die Naturkunden wirken wie eine Illustration zum Kulturpessimismus. Man wendet sich weg vom Menschen und hin zur Natur. Ist es Nostalgie, also Sehnsucht nach einem Ort, wo alles besser ist?

Andreas Rötzer: Konservatismus ist nicht unsere Motivation. Die Naturkunden sind ein Angebot für den Leser, Natur neu zu begreifen, zu erleben, zu erlesen. Ich glaube, wir leben momentan in einer Zeit, in der ein Verlust der Natur stattfindet. Und wenn etwas verlorengeht, dann vergewissert man sich dieser Sache. Daher ist das Schreiben über Natur wichtig geworden: auch als Selbstvergewisserung, weil man sich darin spiegelt. Je stärker der Autor von sich aus die Natur betrachtet, desto subjektiver und intensiver wird die Naturbeschreibung – und desto mehr sagt sie aus über den Schreiber, aber auch über uns.

Ein Stück Eskapismus ist aber dabei.

Andreas Rötzer: Das kann man jederzeit sagen. Es ist auch nichts Schlimmes dabei. Aber wir machen auch im Hauptprogramm sehr progressive Naturbetrachtungen. Zum Beispiel „Das Internet der Tiere“ von Alexander Pschera, das im September herauskommt und stärker theoretisch orientiert.
Zur Erklärung: Das Max-Planck-Institut und viele internationale Forschungsprojekte schließen sich derzeit zusammen, um eine Art Biodome aufzubauen. Über einen Satelliten werden die Daten von Millionen von Tieren zusammengefasst. Die Wanderungsbewegungen können uns Aufschlüsse geben über Vulkanausbrüche, Tsunamis oder Seuchen. Gleichzeitig erfahren wir sehr viel über das Verhalten der Tiere. Unser Autor will zeigen, dass uns die Verkabelung mit den Tieren ermöglicht, neuen Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Bevor der Mensch die Verbindung zur Natur verloren hat, gab es eine Kommunikation in dem System Mensch-Natur. Über Internet und big data der Tiere wird dieser Konnex wiederhergestellt. Wir bekommen wieder Tuchfühlung mit der Natur, obwohl es natürlich eine „Krücke“ ist. Wie ein Fuß, der amputiert wurde und nun durch eine Prothese ersetzt wird.

Die Frage ist, ob es je so gewesen ist, dass der Mensch im Einklang mit der Natur gelebt hat.

Andreas Rötzer: Aber er hat sich als Teil der Natur gefühlt und konnte Wanderungsbewegungen von Vögeln deuten – was wir als Städter heute nicht mehr können. Was bedeutet es, wenn Ziegen den Vesuv herunterlaufen? Das Bewusstsein, solch subtile Bewegungsprofile zu lesen, soll wiederhergestellt werden. Es geht jedenfalls nicht nur ums Konservieren oder die traurige Rückschau, sondern auch darum, was wir tun können, um den Kontakt zur Natur wiederherzustellen. Hinter den Naturkunden steckt mehr als nur ein ästhetisches Programm. Dahinter steckt die Idee, dass das Thema Natur auch politisch ist. Wir müssen uns damit auseinandersetzen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 07/2014

Kommentar verfassen