In einer Demokratie hat man immer das Recht, anderer Meinung zu sein
Seit ihrem Bruch mit den Grünen arbeitet Antje Hermenau als Beauftragte des Bundesverbands der mittelständischen Wirtschaft in Sachsen und als strategische Beraterin für Wirtschaft, Politik und Finanzen. Letztes Jahr brachte sie ihre Streitschrift »Die Zukunft wird anders« heraus – ein Gesprächsangebot, um die politische Debattenkultur wiederzubeleben. Ich befragte die frühere Spitzenpolitikerin zu den Möglichkeiten des politischen Diskurses heute.
Wie stehen Sie zu dem aktuellen Befund, den Sachsen würde das richtige Demokratieverständnis fehlen?
Antje Hermenau: Es kann schon sein, dass viele Sachsen, insbesondere die älteren, nicht die ganzen Institutionen auswendig gelernt haben. Ich glaube auch, vielen sind ihre demokratischen Rechte und Pflichten nicht im Detail klar. Ich möchte aber unterstellen, dass das im Westen genauso ist. Und: wer entscheidet, was das »richtige« Demokratieverständnis ist? Landläufig verbindet man damit Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Dialog. Diese Fakten grundsätzlich zu wissen und für richtig zu halten, ist angemessen, denke ich.
Jetzt ist die Frage: Ist der geforderte Dialog wirklich gegeben?
Antje Hermenau: Natürlich ist es leichter, wenn Leute untereinander diskutieren, die aus demselben Metier kommen. Wenn Spezialisten mit Wissensvorsprung »nach unten« diskutieren, dann wird es schwierig, denn sie behalten oft die »Stammtischhoheit«, haben aber den Dialog nicht erreicht. Es gibt eine Bringeschuld derer, die mehr wissen, weil sie dafür bezahlt werden, sich den ganzen Tag mit politischen Fragen beschäftigen. Der Spezialist muss dem Laien erklären, worum es geht. Das ist zwar noch kein Dialog, aber es kann auch nicht darum gehen, dass der Laie die Meinung des Experten übernimmt. In einer Demokratie hat man immer das Recht, anderer Meinung zu sein.
Wie kommt man in Dialog?
Antje Hermenau: Meine Beobachtung ist, dass es Menschen mit sehr viel Faktenwissen besonders schwerfällt, sich auf Leute einzulassen, die ganz anders denken. Andere weigern sich, in die Tiefe eines Dialogs einzusteigen und begründen das damit, dass die Meinungen eben verschieden sind. Im Grunde gibt es viel mehr Dialogverweigerer als Dialogkönner. Darin sehe ich einen Schwachpunkt in der Gesellschaft. Es liegt nicht an den Gesetzen – die sind in Ordnung. Die Frage ist, ob man in der Lage ist, sich ganz verschiedenen Dialogsituationen anzupassen, oder ob man erwartet, dass sich alle anderen an einen selbst anpassen. Bei vielen Grundsatzdiskussionen geht es nämlich gar nicht um Fakten, sondern um Haltungen.
Nun ist die Stimmung derzeit sehr aufgeheizt und emotional überladen.
Antje Hermenau: Trotzdem sollten wir mit dem Dialog immer weitermachen. Die Bürgerversammlungen in der Kreuzkirche sind ein guter Anfang. Der Dialog wird uns viel Zeit kosten. Und wenn es mal eskaliert und einer mal die Beherrschung verliert – egal! Wenn sich in anderen Ländern Bevölkerungsgruppen so wenig einig sind wie hier, dann schlagen sie sich gegenseitig die Köpfe ein! Derzeit muss einfach Druck aus dem Kessel, sonst führt das zu einer noch stärkeren Emotionalisierung. Und es ist wichtig, sich unvoreingenommen die Meinung anderer anzuhören und zu versuchen, das Gemeinsame herauszufinden und zu definieren.
Wer sollte die Führung und Organisation solcher Versammlungen übernehmen?
Antje Hermenau: Wir brauchen Menschen, die in der Lage sind, schwierige Situationen zu managen und zu moderieren. Zum Beispiel Psychologen. Zu Wendezeiten hatten wir das Glück, dass sich viele Pfarrer engagierten. Damals war die Situation auch völlig unübersichtlich. Alle wussten, wogegen sie waren, doch wofür sie waren, war nicht so klar. Es hat dann zwei, drei Jahre gedauert, bis man einen Plan hatte.
Es ist schwierig, die passenden Räume zu finden – vor allem auf dem Land. Sie sollten für die Leute erreichbar sein, also idealerweise im Ort. Die Kirchen könnten auch jetzt Platz bieten und ihre Räume zur Verfügung stellen für alle. Wenigstens einmal im Monat ein respektvoller Dialog, moderiert von einem Pfarrer – dazu würde ich dringend raten.
Und wie könnte man die erreichen, die so etwas generell ablehnen?
Antje Hermenau: Man kann niemanden zwingen, an der Demokratie teilzunehmen. Aber der gepflegte kulturelle und politische Austausch am Sonntag, meinetwegen in Verbindung mit einem Frühschoppen (lacht), das müsste eigentlich Einkehr halten in unserer Gesellschaft.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
[erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 05/2016]