Provokation: »Die Provinz des Menschen« von Heiner Goebbels

Heiner Goebbels Provinz des Menschen

Das Wichtige an einem Kunstwerk ist, was es dem Betrachter mitteilt – der Dialog, der sich zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter entspinnt. Was entspinnt sich also in der Ausstellung »die Provinz des Menschen« von Heiner Goebbels?

Auf der Vorderseite ist die Videoskulptur zu sehen. Videoscreens mit parallelen Filmsequenzen. Immer der gleich Ablauf: Ein älterer Herr in guter Kleidung und mit weltmännischem Habitus verlässt ein großes Gebäude, läuft ein Stück, lässt sich mit einem Auto nach Hause fahren, betritt sein Wohnhaus. Anhand von Passagen aus Elias Canettis Buch »Die Provinz des Menschen« schildere er seinen Blick auf die Gesellschaft, heisst es Begleitheft. Man muss diesen Worten Glauben schenken, denn der ältere Herr mit dem intellektuellen Auftreten spricht französisch.

Erste Reaktion: »Ich verstehe es nicht. Schade, denn so geht mir ein Teil des Ganzen verloren.« Da die Worte anscheinend keine Rolle spielen sollen, versuche ich, das Ganze als Klangkulisse zu nehmen. Ich konzentriere mich auf die Bilder, auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ein Mann, zehn Jahre, 25 Länder, 50 Städte. Das ist eine Weile sehr vergnüglich. In fremde Städte zu schauen und irgendetwas wiederzuerkennen, ohne zu wissen, worum es sich handelt. Man sieht den Herrn auf benachbarten Screens denselben Weg bei Tag und bei Nacht gehen. Oder man sieht dieselbe Szene auf zwei Monitoren, wie sie mit unterschiedlicher Geschwindigkeit läuft. Es mutet an wie ein großes Memoryspiel aus Filmsequenzen, kunstvoll und mit einigen Effekten zusammengestellt. Die Bezeichnung »Skulptur« ist tatsächlich treffend.

Doch es gibt noch eine »Rückseite« zu sehen: eine Schafherde in der Dunkelheit, auf dem unfruchtbaren Boden einer Industriehalle, angeleuchtet von Scheinwerfern und umkreist von einem beleuchteten Luftschiff. Die Schafe tun, was Schafe eben tun. Es passiert im Grunde – nichts.

Als ich die Ausstellung verlasse, beginne ich, wütend zu werden. Was für eine ungeheuerliche Provokation, uns in unserer Landeshauptstadt mit der Nase in unseren Provinzialismus hineinzutunken! Wieviele der Einwohner verstehen die französische Sprache? Uns alle als Teil einer Schafherde hinzustellen, die auf hartem Boden nach etwas Essbarem sucht und sich hin und wieder bespringt.

Mit dieser Ausstellung hat Heiner Goebbels einen empfindlichen Nerv getroffen. Canetti hat sich mit diesem Phänomen von Menschenmassen in seinem 1960 erschienenen Werk »Masse und Macht« auseinandergesetzt; es stellte ein Reflexionszentrum in seinem Schaffen dar. Ihre unmittelbare Wirkung entfaltet die Installation allerdings nicht durch gesellschaftskritische Canetti-Zitate – Goebbels hätte auch Erläuterungen der Quantenfeldtheorie oder Google-Suchergebnisse rezitieren lassen können. Durch die sprachliche Distanz entsteht im Betrachter ein Eindruck des Fremdseins, der Einsamkeit, des Ausgeschlossenseins aus einem Gespräch. Ist Fremdheit auflösbar in dem Moment, in dem man die Sprache versteht? Sind wir Teil einer Gruppe, sind wir Teil mehrerer Gruppen, sind wir allein? Gibt es etwas Gemeinsames, das uns eint?

Was die Schafherde betrifft, so ist vermutlich der Standpunkt des Betrachters mehr als ausschlaggebend, ob er sich von ihr provoziert fühlt.


Heiner Goebbels (*1952), Regisseur, Komponist und Professor für Theaterwissenschaften in Gießen, gilt als »Grenzgänger zwischen Künsten«, nutzt literarische Texte als „Klangmaterial« und arbeitet mit Raum und Licht, Bewegungen, Stimmen und Tönen.

Die Ausstellung »Die Provinz des Menschen. the human province« war bis 10. April 2016 in der Kunsthalle im Lipsiusbau, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, zu sehen.


[erschienen in abgewandelter Form im DRESDNER Kulturmagazin 03/2016]

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