Der Untertitel des neuen Romans von Mikis Wesensbitter lautet „Die ganze Wahrheit über ’89“. Und welche Wahrheit lernen wir kennen? Die große Langeweile.
Akribisch wird beinahe jeder Tag dokumentiert. Der Held säuft und kotzt, schleppt Frauen ab, tauscht Aktfotos von FDJ-Sekretärinnen und schreibt Eingaben an das Politbüro. Daneben finden sich Schilderungen aus dem Arbeitsalltag: „Dienstag 20.06. – Dienstreise nach Karl-Marx-Stadt. 750 Unterlegscheiben M10er gegen 350 Muttern M22er und fünf Päckchen Rondo Melange. Gibts wohl in Sachsen gerade nicht.“ Alle sind orientierungslos: die Punks, die Stasi-Mitarbeiter, die Kollegen im Werk für Signal- und Sicherungstechnik. Eine Haltlosigkeit wird sichtbar, die viele erst nach dem endgültigen Zusammenbruch der DDR erfuhren.
Das Buch ist rotzig und anarchisch, die billigen Sprüche gibt es pfundweise (wo sonst liest man das Wort „Sackratten“?) – und genau das ist der springende Punkt: Hier ist Punk, hier ist Rebellion gegen jegliche Vereinnahmung. Schon die Erzählweise und die Wortwahl sind Auflehnung gegen Konventionen.
Mit Mikis im Gespräch:
Der Held des Buches trägt Deinen Namen. Sind die Grundlage für den Roman tatsächlich Deine Tagebücher aus dem Jahr 1989?
Mikis Wesensbitter: Das Buch basiert schon auf meinen Erinnerungen. Bestimmte Situationen sind also authentisch, die habe ich so erlebt. Andere sind fiktiv, aber im Rahmen des (damals) Möglichen.
Woran merkte man damals eigentlich, dass die DDR nicht mehr richtig funktionierte?
Mikis Wesensbitter: Das war im Alltag einfach spürbar. Die Diskrepanz zwischen den ewig gleichen Phrasen in den Nachrichten und dem, was jeder täglich sehen konnte, wurde zum Ende der 80er immer größer. Die Mangelwirtschaft war nur ein Aspekt von vielen. Die DDR hatte sich immer damit gerettet, dass die Dinge besser wurden und der Lebensstandard stieg. Ab Mitte der 80er wurde aber offensichtlich, dass es nicht mehr besser wurde und dass der Staat dabei war, die Kontrolle zu verlieren. Wurden Anfang der 80er Jahre die Punks als Gegenkultur noch massiv angefeindet, gab es zum Ende hin immer mehr und verschiedene Subkulturen, die geduldet wurden.
Der Mikis im Buch ist ein Anarchist. Die DDR als Staat nimmt er nicht ernst und mit der Stasi spielt er Katz und Maus. Auf der anderen Seite lehnt er auch die Botschaftsflüchtlinge ab und bezeichnet die jubelnden Massen am Brandenburger Tor als Freiheit-Idioten.
Mikis Wesensbitter: Das Buch ist ja im vorigen Jahr als unmittelbare Reaktion auf die ganzen pathostriefenden Mauerfalljubiläums-Berichte entstanden. Da gab es nur noch die bösen Stasis auf der einen und die mutigen Oppositionellen auf der anderen Seite. Die Botschaftsflüchtlinge wurden als Helden gefeiert, und die Millionen anderen gab es gar nicht mehr. Letztlich steckt in dem Buch ja auch die Frage: Wie hat sich jemand gefühlt, der den Osten doof fand, aber auch keinen Bock auf den Westen hatte? Denn das da auch nicht alles toll ist, war ja kein Geheimnis – außer für diejenigen, die blöd genug waren zu glauben, dass die Schwarzwaldklinik reales Leben zeigt. Die Hoffnung auf eine andere DDR bestand leider nur sehr kurz. Was schade ist, ich hätte das gerne erlebt. Aber da war die Macht des Geldes einfach zu stark.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
[erschienen im DRESDNER Kulturmagazin 11/2015]