Der respektlose Blick aus der Parallelsprache

Tomer Gardi beim Bachmannpreis 2016

Wenn diese Rezension eine Geschichte wäre, dann würde sie so beginnen: Am Anfang war das Wort. Und es war Liebe mit dem ersten Wort, das er sprach. Denn am Anfang twitterte der Bachmann-Juror Klaus Kastberger die besten ersten Sätze des Wettbewerbs 2016. Auf Platz 2: »Am Ende diese Flug verlieren ich und meine Mutter unseren Koffern.« Grammatikalisch völlig indiskutabel, zumal beim Hochamt der Deutschen Literatur. Doch dann las der Autor dieses Sprachungetüms den Satz genauso, und alle Sätze, die folgten, waren vom selben Kaliber. Und er saß da und las und lächelte dazu, und die Fehler waren ihm offensichtlich völlig egal.
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Hitler

Sein Bild hat einen ähnlich ikonographischen Charakter wie jenes Jesu Christi.
Solange Menschen an ihn denken können, wird er sie faszinieren. Sei es als der Messias, als der er sich inszenierte, sei es als Dämon. Er ist eine religiöse Gestalt.

Vielleicht hilft die Zeit. Siebzig Jahre nach Kriegsende, das ist wenig, fast nichts.

Nicht verschweigen, nicht dämonisieren. Doch alle Versuche, ihn als Menschen zu erklären, kratzen nicht an seinem Nimbus.

Warum der Holländer-Michel nicht der Böse ist

das kalte Herz, Neuverfilmung 2016 mit Moritz Bleibtreu, Frederick Lau ua.

Nein, der Holländer-Michel hat nicht Schuld an der Kaltherzigkeit der Menschen – schiebt sie ihm nicht in die Schuhe! Er ist ein armer Wicht, der Passanten um ein Almosen anbettelt. Was er anbietet, ist ein Tausch: Angst gegen Geld. Wie ein guter Psychiater analysiert er seine Besucher, wie ein Freund bietet er seine Hilfe an. »Gib mir das dumme pochende Ding, und Du sollst sehen, wie gut Du es dann hast.« Er zwingt niemanden, dieses Geschäft mit ihm einzugehen, doch er profitiert von allen schlechten Dingen, die es in der Welt gibt: von der Armut, der Dummheit, der Gier, dem Neid.
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Spätsommermorgen (August)

Ich bin auf dem Weg in die Bibliothek. Habe im Garten die Beete gegossen und schnell die letzten Reste des gestrigen Abendbrots weggeräumt. Es wird warm werden heute, doch das Gras ist noch voller Tau, ich bekomme nasse Zehen. Kein Gedanke kreuzt mein Gehirn, und wenn doch, dann habe ich ihn bereits vergessen, als ich zu jener Bank komme, auf der ein Mann sitzt, vor dem eine Frau hockt. Ihre Arme halb um seine Hüften geschlungen, kauert sie am Boden, das Gesicht verweint. Ihre Haltung flehend: heb mich auf, ich bin ganz unten. Seine beiden Hände streichen durch ihr Haar, immer wieder, und er spricht mit leiser, ruhiger Stimme. Was er sagt, höre ich nicht. Doch ich weiß schon, er wird sie nicht aufheben. Er wird ihr mit vernünftigen Worten erklären, daß alles nicht so schlimm ist, ein Mißverständnis vielleicht, ein Irrtum. Daß sie allein aufstehen kann und wird. Und sie wird zu seinen Füßen verharren, aus der Zeit gefallen, gelähmt und taub. Die Minuten werden sich in ihrem Kopf ausdehnen zu Ewigkeiten, bis er aufsteht, weil er gehen muß. Vielleicht wird er ihr doch die Hand geben, vielleicht wird er sie sogar grausam umarmen, und dann wird er sich umdrehen und sie wird dastehen und die Bank ansehen. Sie wird die Sonne als ein heißes Gewicht auf ihren Schultern spüren, und darunter wird sie frieren.